
Im Moment (28. September) sind wir auf dem Campingplatz in Mora in einer kleinen Stuga. Es ist klein, gemütlich, warm und draußen regnet es in Strömen. Hier begann unser Abenteuer, Schweden der Länge nach zu durchqueren (von Süd nach Nord) am 19. April 2021. Es ist Wahnsinn, wo die letzten Monate geblieben sind und kaum zu beschreiben oder gar zu fassen, was wir alles gesehen und erlebt haben. Hier, tatsächlich in der gleichen Stuga, packten wir unsere Rucksäcke und überlegten genau, was wir die nächsten vier bis fünf Monate brauchen würden und was wir im Caddy lassen könnten. Die Entscheidungen waren gar nicht so leicht und so verbrachten wir einige Stunden mit hin- und herräumen. Ganz gleich wie sehr man sich vorher damit auch schon beschäftigt hatte, wenn es dann ‚ernst wird‘ ist es doch noch mal etwas anderes.
Am 20. April fuhren wir dann mit einem Leihwagen zum Flughafen Malmö – unseren Caddy hatten wir bei Bekannten in Funäsdalen geparkt – und um die Mittagszeit oder frühen Nachmittag machten wir die ersten Schritte der Schwedendurchquerung. Fast direkt am Flughafen Malmö beginnt der Skånleden, sodass es ein guter Einstieg war. Inklusive Essen für einige Tage und jeder mit zwei Litern Wasser im Rucksack (da wussten wir noch nicht, wie super gut die Wanderwege auch im Süden mit Wasserquellen ausgestattet sind) hatten wir doch jeder ca. 26 Kilo auf dem Rücken und gehören damit auf jeden Fall nicht zu den Ultraleicht-Wanderern :-). Der Rucksack war schwer und ehrlich gesagt blieb er es auch jeden Tag bis wir Abisko erreichten, aber man gewöhnte sich dennoch daran und irgendwie war uns beiden zum Beispiel wichtiger, auf einer dicken, stabilen Isomatte gut zu schlafen, als auf einer dünnen, vielleicht nicht so stabilen oder auch nicht so kalte Temperaturen aushaltenden Matte. So setzt jeder Wanderer eben seine Prioritäten und bei uns sollte definitiv neben dem Abenteuer auch ein Wohlgefühl oder Genuss mit dabei sein und nicht nur „Wanderqualen“. Und trotz viel Genuss war es ja doch eine tägliche, körperliche Herausforderung und das lag nicht nur an dem schweren Rucksack.
Wir trafen auf einer Wanderung einmal einen schwedischen Professor, der tatsächlich zu den unterschiedlichen Verhaltensweisen und Einstellungen von Wanderern forschte. Er erzählte, dass es seinen empirischen Studien zu Folge zwei Arten von Wanderern gibt: die, die das Abenteuer suchen und die, die die Natur genießen wollen. Wie erschöpft jemand am Ende des Wandertages ist, liegt nicht daran wie fit er ist, sondern ob er Abenteurer oder Naturgenießer ist. Die, die das Abenteuer suchen, sind erschöpfter als die Naturgenießer. So seine Studienergebnisse. Wir fragten uns beide sofort, zu welcher Kategorie wir gehörten und waren uns einig, dass wir eher die Naturgenießer sind und nicht die Abenteurer und dennoch abends müde, erschöpft und glücklich auf die Isomatten gefallen sind. Spannend war und ist sein Ansatz aber dennoch.
Schon das ein oder andere Mal haben wir hier über die Begegnungen geschrieben, die wir während der letzten Monate hatten. Insbesondere am Anfang unserer Wanderung ist es uns sehr aufgefallen. Der Busfahrer, der anhielt und uns anbot, uns mitzunehmen; die Dame, die uns ihre Toilette anbot, weil das öffentliche WC geschlossen war; der junge Schwede, der unsere Idee für verrückt hielt und uns seine Bewunderung aussprach; Ulf, bei dem wir im Garten übernachten durften und ein großartiges Frühstück bekamen; eine ältere deutsche Dame, die vor über 50 Jahren nach Schweden ausgewandert ist und einfach sich so herzlich freute, deutsch mit uns zu sprechen; ein Pärchen, das auf seiner Terrasse saß und uns Wasser anbot und einen schönen, einsamen Zeltplatz in der Nähe verriet; ein schwedisches Pärchen, die im Gespräch uns bestärkten nicht mit Eile unterwegs zu sein, in dem sie sagten: „it takes the time, it will take“… und so viele offene, herzliche Gespräche mit Menschen jeglichen Alters, die ich hier gar nicht so richtig im Detail wiedergeben kann. Oft ging es natürlich darüber, an welchem Ort man die Wanderung begonnen hat und bis wohin man läuft, aber ebenso oft entspann sich schnell ein Gespräch über die Wichtigkeit von Auszeiten, vom Abtauchen in die Naturstille, dem Genießen der Naturfarben und -formen und der Wichtigkeit, zum Alltag einen gesunden Abstand zu bekommen oder auch einen neuen Blick auf ihn. Erst vor Kurzem trafen wir im Fjäll zwei schwedische Herren Mitte 70, wie sie stolz erwähnten, die sagten: es ist so gut, dass ihr so lange wandert. Wir machen es auch schon seit Jahren regelmäßig und nun mit Mitte 70 immer noch, zwar langsam, aber wir sind hier und es tut so gut. So ist es, kann man da nur sagen und die beiden mit einem herzlichen Lächeln bewundern.
In der Sommerzeit und um so näher wir Abisko kamen, wurden diese Begegnungen etwas weniger, da einfach so unfassbar viele Menschen unterwegs waren. Verständlicherweise, denn wir finden ja auch, dass Schweden ein wunderbares Land zum Wandern ist :-). Es war dennoch erstaunlich, dass dadurch eine gewisse „Hektik“ auf den Wanderwegen entstand bzw. die Menschen, die eben nur zwei Wochen Urlaub haben, einen anderen Spirit mitbringen als Menschen, die keinen Zeitdruck haben, einen bestimmten Weg in xy Tagen zu schaffen.
Eine mir sehr nahestehende Tante fragte mich letztens, ob die Wanderung etwas mit uns gemacht hätte. Und sofort schrieb ich ihr zurück: „ja, sie hat auf jeden Fall etwas mit uns gemacht.“ Und als ich ihr dann im Detail erklären wollte, was genau dieses „etwas“ ist, war es gar nicht so leicht. Ich hatte auf jeden Fall oft genug den Gedanken, „wenn mir jemand Geld fürs Wandern geben würde, würde ich sofort non stop wandern“ :-). Und es ist auf jeden Fall für mich selbst die erneute Bestätigung, ähnlich wie Tobi es in seinem Bericht schon beschrieb, dass ich noch weniger brauche als gedacht, um glücklich und zufrieden zu sein. Die Reduktion des doch sehr komplexen Alltags mit all seinen kleinen und großen Entscheidungen finde ich unfassbar wohltuend für Körper und Seele. Natürlich fehlen mir meine Freunde und einige meiner Familie sehr und mein letztes Jahr verstorbener Vater sowieso jeden Tag und gleichzeitig takteten insbesondere die Tage, die wir fernab der Zivilisation verbrachten, mich so unfassbar runter. Es waren einfach viele Tage hier (natürlich nicht alle, aber viele), wo ich tatsächlich eine tiefe Ruhe und Gelassenheit in mir spürte und so ein „mit sich allein oder in sich wohl fühlen“, was mir zumindest im „normalen“ Alltag oft abhandenkommt. Zu viele Eindrücke, Einflüsse, Geräusche, Input, zwischenmenschliche Auseinandersetzungen etc. prasseln da auf mich ein und ich kann sie oft genug nicht „abprallen“ oder einfach nur wahrnehmen und stehen lassen. Ich bin unendlich dankbar, dass ich diese Zeit hier erleben kann und es gemeinsam mit Tobi und Mack „einfach“ gemacht habe oder mache.
Eine gute Bekannte von mir schrieb mir zudem vor Kurzem: „mit Betrachterabstand sortieren wir uns neu. Ich finde es total wichtig, ab und an gewohnte Bahnen zu verlassen. Man spürt sich mehr und die Welt wieder anders.“ Sie hat es einfach super treffend formuliert, daher zitiere ich sie hier gern und danke ihr sehr für die Worte.